Schwesternbriefe Amadea/Margarete 8. – 11.10.2020
SCHWESTERNBRIEFE
08.Oktober 2020
Ich bin der Wahrheit verpflichtet,
wie ich sie jeden Tag erkenne und
nicht der Beständigkeit.
Mahatma Gandhi
Liebste Margarete,
Was für ein Morgen! Ich bin unterwegs, um meine Mutter in ihrer neuen Alterswohnung zu besuchen.
Als ich den kleinen Weg zum Bahnhof hochging, flatterte ein Grünspecht direkt vor mir auf.
Habe mich riesig gefreut!
Dann bin ich in den Zug gestiegen und schon kam ein Billettkontrolleur. Er hat mich angeschnauzt, weil ich keine Maske trage. Wollte ein Attest sehen. Habe ihm dann die Fotos von der Website der SBB gezeigt, wo nichts von einem Arztzeugnis steht.
Warum müssen wir uns rechtfertigen?
Da es nun bis Biel erledigt ist, versuche ich mich zu entspannen und die Herbststimmung zu geniessen.
Es ist wunderschön, Nebel, prächtig goldene Herbstwälder, Raben, ein paar Rinder ab und an, leuchtende Apfelbäume, ein Stückchen blauer Himmel und eine Katze auf dem Feld.
Im Zug ist es still. Klar, tragen ja alle Masken….
Irgendwie wurden wir schon Jahre lang vorbereitet. Wir haben ja noch immer unsere Mobiltelefone und Kopfhörer. Wir sind konditioniert für uns alleine unterwegs zu sein, also ist es nicht weiter schlimm, auch noch einen Maulkorb zu tragen.
Weisst du, es macht mich so traurig, denn ich fühle mich eingeschränkt. Ich habe ein Generalabonnement für den öffentlichen Verkehr, doch keine Lust es zu benutzen.
Ich habe mich seit drei Tagen innerlich vorbereitet, mich auf den Weg zu meiner Mutter zu machen.
Für mich ist ganz klar, dass ich niemals eine Maske tragen werde.
Was sind das für Staatsoberhäupter, die ganzen Völkern solch gefährliche Lappen aufzwingen?
Welch brave, konditionierte Schafe wir doch sind.
Wenn der Regierung an unserer Gesundheit liegen würde, gäben sie uns den Rat uns gesund zu ernähren, in die Natur zu gehen, unser Freunde zu besuchen, uns zu umarmen, viel zu lachen, zu tanzen, ins Theater zu gehen, unsere Grosseltern zu integrieren.
Doch genau davon rät man uns ab.
Lassen wir das….
Ich werde weiterhin meine Wahrheit leben.
Dein Sommer war sehr intensiv, ein Stück näher zu dir.
Es hat mich so sehr gefreut von dir zu hören.
Auch, dass du und Thomas euch auf einer neuen Ebene finden könnt.
Für mich war es ein wunderschöner Moment, als ich tiefe Dankbarkeit den beiden Vätern unserer Söhne gegenüber empfinden konnte. Es war befreiend.
Durch Henry und Hans sind Aimé und Linus entstanden. Das grösste Geschenk des Lebens.
Alles andere ist unwichtig.
Die partnerschaftliche Liebe ist weg, doch es bleibt eine Verbundenheit. Bei euch ist das bestimmt noch viel stärker, denn ihr wart ja über dreissig Jahre zusammen.
Es ist gut, aus der Komfortzone zu treten, neues zu wagen und wie du sagst, wieder Abenteuer zu leben.
Bestimmt findest du bald eine passende kleine Wohnung. Welche Freude dich neu einzurichten! Dein ganz eigenes Reich zu schaffen…
Ich träume in letzter Zeit von einem Tinyhouse, irgendwo draussen in der Natur….. vielleicht findest du ja einen Bauwagen zum umbauen…
Ich finde deine Pläne toll!
Linus macht zur Zeit ein Praktikum vor der Kamera und Aimé hat zu studieren begonnen. Das bedeutet für uns alle, dass die Wohnsituation noch ein paar Jahre so bestehen bleibt.
Wir verstehen uns ja gut und jeder kann sich zurück ziehen, wenn er Ruhe braucht.
Momentan bin ich wieder mehr die Mama, die kocht, denn beide sind den ganzen Tag unterwegs.
Ich mache das ja sehr gerne.
Manchmal ist es schon fast, wie in einer Restaurantküche. Drei verschiedene Menüs.
Jeder hat seine individuellen Vorlieben oder Ernährungsformen. Zweimal vegan, jedoch einmal Keto und einmal scharfe Gerichte mit ab und an Fleisch.
Der Apfelbaum beschenkt uns reich! Habe jetzt Apfelringe , die ich in Zitronensaft und Zimt gedreht habe, getrocknet. So fein!
Gestern habe ich Apfelchutney gemacht. Wir haben schon sehr viel Apfelmus! Nun möchte ich noch Apfelstücke sterilisieren.
Es macht so grosse Freude.
Letztes Wochenende hat es so stark gestürmt, dass nochmals ganz viele Äpfel runtergefallen sind.
Linus hat Apfelsaft gemacht und ihn etwa vier Stunden eingekocht. Jetzt haben wir sogar eigenen Apfeldicksaft.
Inzwischen sitze ich im Zug nach Basel. Der Kontrolleur hat mich darauf hingewiesen, dass ich keine Maske trage. Ich habe freundlich gesagt, dass ich aus gesundheitlichen Gründen keine tragen kann. Er hat gelächelt, genickt und gut war.
So geht es auch!
Nun geniesse ich die Fahrt durch den Herbst. Es ist zauberhaft!
Inzwischen bin ich auf dem nach Hause Weg.
Zweimal Bus gefahren und zwei Geschäfte besucht, alles ohne Maske! Funktioniert!
Meine Mama hat sich so sehr gefreut!
War für sie einkaufen und dann haben wir gekocht…. Kürbisschnitze mit Rosmarin und Olivenöl auf dem Blech.
Alles ist top modern, ganz neu…
Aber nicht wirklich auf alte Menschen abgestimmt. Das Licht über dem Herd ist so toll integriert, dass eine 87 jährige Frau damit nicht klar kommt.
Der Geschirrspüler voll digital, ebenso der Backofen….
Einfach nicht bedienfreundlich für Menschen, die vor 1970 geboren wurden…
Ich glaube es hat ihr gefallen mit mir zusammen zu essen. Da ihr Bruch erst 7 Wochen zurück liegt, ist sie noch nicht sehr mobil. Sie hat einen Rolator und kann die Wohnung noch nicht verlassen.
Wie schön wäre doch jetzt ein Bauernhaus mit einem Stöckli daneben.
Früher gab es in der Schweiz Bauernhöfe, die ein Nebengebäude für die Grosseltern hatten.
Wie gerne hätte ich jetzt diese Möglichkeit für meine Mama.
Sie wäre mit einbezogen ins Tagesgeschehen, könnte mithelfen wo sie noch mag und hätte trotzdem ihre Ruhe.
Da ich das nicht habe, werde ich sie jetzt jeden Dienstag besuchen. Heute war etwas ungünstig, weil sie mir nicht gesagt hat, dass sie noch Physiotherapie hat.
Was mich traurig macht ist, dass sie als voll dement eingestuft wird. Keiner berücksichtigt, dass sie vor sieben Wochen eine Vollnarkose hatte, eine neue Wohnung beziehen musste und weder beim Einpacken, noch beim Auspacken aktiv mithelfen konnte. Logisch, dass sie nicht alles findet.
Wir haben ihr Kokosöl gebracht, ein Löffel täglich soll helfen, das Gedächtnis zu „reparieren“.
Ausserdem möchte ich, dass bei ihrem nächsten Arzttermin der B12 Wert geprüft wird. Das ist auch sehr wichtig fürs Gehirn. Sie lebt ja schon seit vielen Jahren vegetarisch und ich glaube nicht, dass sie B12 sublimiert.
Ich habe einfach zugehört…. Das ist wohl das Wichtigste.
Wie sehr ich es geniesse, Zeit zu haben. Keine Termine, kein nächster Patient wie die Menschen, mit denen sie sonst zu tun hat.
Ja, das ist so mein heutiger Tag….
Freue mich auf Morgen, denn dann mache ich einen Spaziergang zum Selbstpflückfeld. Dort gibt es Holzofenbrot in Demeter Qualität.
Ich habe das wunderschöne Wetter so sehr genossen nach fast einer Woche Sturm und Regen. Ich beklage mich nicht, denn Mutter Erde hat das Wasser dringend gebraucht.
Wow! Man kann die Alpen sehen…. ein toller Anblick!
Habe ich schon lange nicht mehr erlebt. Ich war den ganzen Sommer im Jura. Ging nur auf den Markt und in den Bioladen.
Nun wünsche ich dir einen wundervollen Abend, geniesse die Natur!
Ich umarme dich!
Amadea
SCHWESTERNBRIEFE
11.Oktober 2020
WO IMMER DU BIST, SEI DIE SEELE DES ORTES.
Rumi
Liebste Amadea,
es ist so schön und stark, wie du für deine Wahrheit gehst.
An manchen Stellen bin ich da nicht so sicher wie du, nicht so gefestigt und überzeugt.
Ich trage Maske im Geschäft, wo es verlangt wird. Aus Respekt denen gegenüber die Angst haben und der Geschäftsleitung gegenüber, da diese keine Schwierigkeiten bekommen möchten. Es ist auch bei uns in der Praxis so.
Bei wievielen das wohl so ist, dass sie dieses Kapserltheater mitmachen, in der Meinung es wegen der anderen zu machen? Dabei ist es nur, damit sie selbst ihre Ruhe haben – zumindest bei mir ist es so, geb ich ehrlich zu.
Und weil ich null Bock mehr auf Diskussionen habe. Da setze ich das Ding ein paar Minuten auf und nehm es dann wieder runter.
Ja, vielleicht der leichtere Weg, vielleicht auch der feigere, ich weiß es nicht. Manche Dinge machen mich müde, kosten mir zuviel Energie, die ich an anderer Stelle dringender benötige. Ich will mich damit einfach nicht mehr beschäftigen, da es inzwischen nur noch nervt.
Die Margarete-Teilchen in mir sind zu sehr auf Harmonie gepolt, denn auf Rebellion, manchmal ärgert mich das selber.
Meine Töchter haben da mehr Kampfgeist in sich.
Unglaublich was zB Tamara in einem sehr großen Unternehmen aufgezeigt hat, wo man als Frau vorzugsweise Kaffee machen können sollte und relativ blind die Aufträge durchführen, die Chefs verlangen. Mit nichts hat sie hinter dem Berg gehalten, hat für die Rechte der Frau als voll leistungsfähiges Wesen gekämpft (dass das heute noch notwendig ist, war mir nicht klar) und hat nun jedoch endgültig das Unternehmen verlassen mit so vielen positiven Rückmeldungen von Angestellten, Lieferanten und sogar Führungskräften, die sich nie etwas sagen trauen, um nicht gekündigt zu werden oder in Ungnade zu fallen.
Sie ist im Endeffekt gegangen, weil sie null Chancen auf Aufstieg hatte, da nur Männer in der Führungsriege sitzen.
Jetzt wurde sie wieder in das vorige Unternehmen geholt und hat einen Leaderplatz, übernimmt Verantwortung und liebt es, etwas bewirken zu können.
Ich freue mich so mit ihr, dass jetzt alles so gekommen ist, es war kein leichter Weg für sie. Und sie hat niemals ihren Glauben und ihren Humor dabei verloren.
Carina machte wieder andere Erfahrungen als Frau. Dass du als schöne schlanke blonde Frau in eine gewisse Schublade gesteckt wirst und wirklich viel Energie benötigst um aus dieser Schublade rauszukommen, damit deine Leistungen tatsächlich gesehen werden und du ernst genommen wirst.
Auch sie hat nun inzwischen ihren Platz in einem jungem Start-up Unternehmen gefunden, wo sie sich voll einbringen kann, ernst genommen und anerkannt wird, als das was sie ist und nicht wie sie aussieht.
Es war nie leicht sich als junge Frau voll durchzusetzen und dabei nicht die Herzlichkeit und das Verständnis für Vieles zu verlieren.
Ich wünsche allen Frauen und jungen Menschen das Beste auf deren Weg in einer echt immer komplexer werdenden Berufswelt.
Ich freue mich, dass auch deine Söhne so deren Weg gehen, wie sie es tun. So interessant, wie wunderbar verschieden und einzigartig jeder in diesem Leben wirkt.
Wie würde ich mir wünschen, dass jeder Mensch nach seinem Innersten im Außen wirken könnte. Egal ob im Beruf, in den Beziehungen und sonst überall.
*
Heute habe ich Tamara mein momentanes Lieblingsbild mitgeteilt, das mir hilft, jetzt bei mir zu bleiben:
Das Bild eines Wirbelsturmes.
Rundherum tobt es, fliegen die Fetzen, saust einem alles um die Ohren, brechen Dinge weg, trennen sich Menschen, zerbrechen Unternehmen, stürzen Häuser ein, fliegen Bäume, stürmt es an allen Ecken und Kanten, doch innendrinnen gibt es einen Bereich in dem es immer komplett still ist.
Und genau da erinnere ich mich immer wieder hin. An diesen stillen Teil in mir. Und von da aus, ist der Sturm wie ein vorübergehendes Phänomen zu beobachten.
Heute bin ich von ein paar Tagen im Salzkammergut zurückgekommen. Wenn es einen Ort gibt, der für mich diesen stillen Punkt darstellt, dann ist es für mich dort.
Bad Aussee, Grundlsee, Altaussee.
Die Mitte.
Witzigerweise ist dies tatsächlich geografisch die Mitte von Österreich.
Es ist mein Wunsch, selbst immer dieses Salzkammergut zu sein, dieser Punkt, diese Mitte, dieser Seelenort. Egal wo ich bin.
Ich hatte einmal einen Traum. Es war Krieg, die Bomben flogen und wir Frauen, Kranke und unsere Kinder mussten in den Luftschutzkeller fliehen.
Da war so viel Angst und Tränen. Stille und schreiende Tränen. Bis mir die Idee kam, Trommelrhythmen auf meinem Körper zu spielen und es den anderen zu zeigen und lernen.
Dadurch wurden wir alle vom draußen abgelenkt und trommelten und klatschten mit unseren Händen auf unseren Schenkeln. Es wurde sogar gelacht. Die Situation drehte sich und ich fühlte mich glücklich.
Selbst wenn ich jetzt nur von diesem Traum erzähle, kann ich das Gefühl nachvollziehen.
In diese Mitte kommen. Egal was draußen ist.
Und doch sind wir alle Menschen, die es immer wieder „rausschleudert“.
*
Mich machte es bis jetzt innerlich fast rasend auf eine neue Wohnung warten zu müssen. Nicht der Umstand des Wartens müssen ist das Schlimme, sondern der, dass ich selbst aktiv nichts dabei machen kann. Dass ich auf das Wohlwollen und Bitten von anderen Menschen angewiesen bin, da mir jemand zugesichert hat zu helfen.
Heute habe ich selber das ganze wieder in die Hand genommen und schaue nun selbst auf anderen Wegen.
Ich wünsche mir eine kleine freundliche Wohnung für mich, ein Platz zum Wohlfühlen, zurückziehen, kreativ sein können, schlafen, lauschen, Wärme, Freunde einladen, Bäume in der Nähe. Ein Platz wie eine Seelenmitte.
Manchmal weiß ich nicht, ob wir einen Raum beseelen oder ein Raum uns beseelt.
Wahrgenommen habe ich schon beides.
*
Ja, es ist oft schlimm, dass die Technik den alten Menschen oft einfach so vor die Nase gesetzt wird. Jedesmal wenn ich mit der Straßenbahn fahre, denke ich mir, meine Oma hätte da Schwierigkeiten gehabt, sich beim Automat digital das ticket zu lösen und ich bemerk das öfters bei alten Menschen. Mich macht das traurig.
Die Technik überholt uns.
Ja, auch ich würde es begrüßen in großen Häusern Jung und Alt leben lassen zu können. Sich gegenseitig zu unterstützen. Für den anderen da sein können.
Und sie bauen Wohnblöcke über Wohnblöcke, die Wohnungen werden immer unpersönlicher und die Zäune immer undurchsichtiger.
Deshalb begrüße ich jetzt zutiefst dieses Leben das ich heuer im Sommer im Wohnwagen entdeckt habe. Da rutschen Menschen zusammen, wenn sie wollen. Da gibt es keine Zäune, außer vielleicht ein paar Sträuchern.
*
Ich liebe es immer, deine Zeilen zu lesen. Da fließt so viel Ruhe rüber.
Und so schön, wie du dir Zeit für deine Mama nimmst.
Es ist so wichtig „unsere Alten“ zu schützen, ehren und für sie da zu sein.
Ich habe mir schon vor Jahren vorgenommen für meine Schwiegermutter so viel da zu sein wie es mir möglich ist. Und weißt du, dass auch sie mir dabei viel gibt? Dieses Zusammensein mit älteren Menschen entschleunigt so immens.
Ich weiß nicht, ob ich dir erzählt habe von der Zeit, als ich damals meine Oma und meinen Opa zuerst selber mit meiner Tante pflegen wollte, es dann aber neben unseren Kindern nicht schaffte, wir sie dann in ein Pflegeheim geben mussten, jedoch selber dann regelmäßig dort waren.
Es war gleich bei mir um die Ecke und jedesmal wenn ich in das Gebäude ging, wurde ich sofort mit dem Thema Endlichkeit konfrontiert.
Und das tat mir so gut, zu einer Zeit in der ich extrem hektisch und an tausenden Ecken unterwegs war.
Es freut mich sehr heute sagen zu können „ich habe Zeit“.
Und gerne verschenke ich diese dann eben an meine Schwiegermutter, oder wo ich sonst helfen kann.
Weil der Satz so schön ist, schreibe ich ihn gleich nochmals, damit er seine Wirkung voll ausbreiten kann:
„Ich habe Zeit.“
Ist das nicht schön?
Wir haben Zeit, liebste Amadea.
In Liebe, deine Margarete
Foto: Altausseer See