Margarete Hohner

Dem Punkt dahinter lauschen

30.09.2020 9:58 keine Kommentare
Vor kurzem war ich wieder bei meiner Schwiegermutter.
Ich liebe diese Frau von Herzen. Sie war immer eine Art Ersatzmutter für mich, da ich meine ja nie kennenlernte.
Es ist so dass ich, je länger ich sie nicht gesehen habe, desto mehr Zeit nehme ich mir für sie, denn sonst komme ich nicht an ihre wirkliche innere Sprache ran.
Denn – da sie nicht wirklich viele Menschen zum Reden hat – sammelt sich ganz schön viel an, das sie in ihrem Kopf fest gefangen hält.
Vor allem kommt dazu der ganze Nachrichten- und Fernsehwahnsinn samt Corona Angstschürungshypnose.
Ich ließ sie 2-3 Stunden nur reden, ohne ihr dagegen zu reden oder gescheiter zu sein. Lauschte und sah sie dabei an.
Der Kaffee half mir, dass ich bei Themen der Krankengeschichten der Nachbarschaft nicht gähnte, doch ich wollte bewusst, dass sie in ihren Kopf ausmistet, alles rausläßt.
Irgendwann kommt dann der Punkt – je öfter ich bei ihr bin, desto schneller kommt der – wo sie ruhiger wird.und entspannter atmet.
Und erst ab dann höre ich, was tatsächlich in dieser Frau steckt, was sie im Innersten bewegt und erfahre, wovon sie träumt und was sie glaubt und es kommt viel Weises und Interessantes. Da wird das Gespräch wach , ehrlich, für uns beide nährend und schön.
Später dann sagte ich zu ihr, dass wir doch bitte ein paar Schritte rausgehen in die Luft, die alte Gedanken auslüften und uns neue, frischere hereinholen.
„Nein, es regnet“.
„Wir nehmen einen Schirm.“
„Ich habe solche Kreuzschmerzen“.
„Da hilft das Gehen.“
„Ich gehe heute sicher nicht hinaus.“
„Ich schon.“ und stand auf um mir die Schuhe zu holen.
Kurz darauf gingen wir hinaus.
Sie, ihr Partner und ich spazierten ins Ortszentrum, sie unterhielt sich eifrig mit der Besitzerin des Second-hand Ladens während ich Kleidung probierte, lachte und sprach mit einem Pärchen auf der Straße, die sie offenbar kannte und wir gingen weiter, sie erzählte mir von ein paar Geschäften und Häusern.
Wir waren ca. 2 Stunden unterwegs.
Als wir nach Hause kamen sagte sie zu ihrem Partner: „Wir machen das jetzt öfters. Ich werd ja sonst ganz blöd in der Birne. Den ganzen Scheiß den sie uns da in der Zeitung und in den Nachrichten sagen, macht einen ganz wirr und wenn ich da draußen bin ist es ganz anders. Und dann ist es auch zu Hause wieder ganz anders und viel schöner.“
„Ja, von mir aus.“ sagt ihr Partner.
Ich weiß, dass wir das nächste Mal wieder das gleiche Spiel spielen, sie wieder tagelang nicht spazieren rausgeht und dem Fernsehen glaubt, doch für eine gewisse Zeit, ist ihre Welt und ihr Atem friedlicher und freier – und unser beider Herz erfüllter.

Was denkst du?